Ich gehe davon aus, dass Sie den Zustand des Klaren Sehens, den klaren Raum, wie im vorhergehenden Artikel beschrieben, erlebt haben. Haben Sie auch das Experiment mit den geschlossen Augen gemacht und die Unendlichkeit Ihres Gewahrseins erfahren? Haben Sie auch einmal nachts in den Sternenhimmel geschaut und gesehen, dass Ihr Gewahrsein sogar die Sterne beinhaltet? Und darüber hinaus geht? Wie könnten Sie sich all dessen gewahr sein, wenn das Gewahrsein, der klare Raum, der Sie sind, dies nicht beinhalten würde?

Ihr Gewahrseinsraum beinhaltet alles, was Sie wahrnehmen. Auch der Tastsinn bietet einen Zugang zum gewahren Raum. Versuchen Sie doch einmal folgendes: Streichen Sie bewusst mit einem Zeigefinger über, zum Beispiel, eine Tischfläche. Fühlen Sie seine Oberfläche. Nun kehren Sie Ihre Aufmerksamkeit am Finger um 180° um. Wer ist sich der Tastempfindung gewahr? Ist da jemand in Ihrem Finger? In Ihrem Gehirn? Nein. Es ist natürlich der leere, gewahre Raum, der wahrnimmt.

Es kann gut sein, dass Ihre Gedanken und Wahrnehmungsgewohnheiten das klare Empfinden des gewahren Raumes stören: Zweifel, Widerstand, Dinge die scheinbar nicht logisch erscheinen und so weiter. Wenn es um das dritte Paradigma geht, können Sie Logik vergessen. Es geht um unmittelbare Wahrnehmung und die funktioniert ohne Gedanken am besten. Was ich hier schreibe sollen Sie nicht unkritisch machen. Im Gegenteil. Machen Sie die Experimente mit einer offenen Haltung und sie werden den gewahren Raum, der Sie sind, erkennen. Wenn Sie geübt sind, erkennen Sie auch Ihre Gedanken und Gefühle als beliebige, spontane Erscheinungen in Ihrem gewahren Raum, die mit Ihrem wirklichen Wesen so viel und so wenig zu tun haben, wie der Tisch vor Ihnen.

Gehen Sie mit aktiviertem Zweiwegesehen (s. vorherigen Artikel) spazieren. Wenn Sie ein Empfinden von Leichtigkeit, Freude, Berührtsein, Stille, Weite, Glückseligkeit oder so etwas ähnlichem haben, dann haben Sie Gewahrsein des leeren Raumes. Strengen Sie sich dabei aber bitte nicht an. Es ist ganz leicht. Halten Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen auf den gewahren Raum gerichtet und gleichzeitig nach außen, auf die Dinge, die den Raum füllen.

Sie werden feststellen, dass der gewahre Raum immer still steht und sich Ihre Umgebung durch diesen Raum hindurch bewegt. Der leere Raum ist der ultimative Standpunkt. Seien Sie sich diesem gewahr, wenn Sie sich in einer Auseinandersetzung befinden oder Stress erleben. Die Situation wird sich nicht ändern, Ihr Empfinden von dieser Situation allerdings erheblich. Sie werden von diesem Standpunkt aus die Situation gelassen meistern und intuitiv das Richtige tun. Die größte Herausforderung ist, sich, in einer solchen Situation, an den gewahren Raum zu erinnern. Üben Sie, seien Sie gewahr, immer wieder, dann wird dies zu Ihrer selbstverständlichen Art, die Welt wahrzunehmen. Ihr Eindruck vom leeren Raum wird sich immer weiter ausdehnen.

Ich habe oben von Ihrem Gewahrsein geschrieben. Sie wissen nun, dass dies falsch ist. Niemand hat Gewahrsein. Gewahrsein ist die natürliche, gegebene Qualität des Raumes, in dem alle Dinge, die zehntausend Dinge, die gesamte Schöpfung erscheinen. Das sind SIE. Sie sind nicht Ihr Körper, Ihre Gedanken oder Gefühle. Sie sind leerer, gewahrer Raum, dem eine grundlose Daseinsfreude innewohnt. Das waren Sie schon immer und Sie werden es immer sein.

Vor dem Klaren Sehen hielten Sie Ihren Körper und was sich innerhalb der Körpergrenzen abspielte für Ihr „Ich“, Ihre Person oder Ihr Dasein. Ihren Körper, Ihre Gefühle, Ihre Gedanken, Ihre Erinnerungen, Ihr Empfinden und so weiter nahmen Sie für sich in Besitz. Was ist nun, wenn Sie dieser leere, gewahre Raum sind? Probieren Sie es aus. Kehren Sie Ihre Aufmerksamkeit um, dahin, wo andere Ihr Gesicht sehen. Seien Sie ich des Raumes bewusst. Sehen Sie klar. Legen Sie nun Ihre Hand auf den Tisch. Ist die Hand nicht genauso ein Objekt im Raum, wie der Tisch? Gut, Sie können Ihre Hand bewegen, doch später werden Sie erkennen, dass dies nicht wirklich einen Unterschied ausmacht.

Werden Sie sich Ihres Körpers gewahr und schauen Sie aus dem Klaren Sehen auf ihn. Was unterscheidet diesen Körper von dem Körper Ihres Partners oder Ihrer Katze oder Ihres Hundes? Nichts. Es sind alles Erscheinungen im leeren Raum. Natürlich fühlen Sie sich Ihrem Körper näher, doch letztendlich ist da kein Unterschied. Wenn sich, mit fortschreitender Übung, das Gewahrsein über den ganzen Raum Ihres Wahrnehmungsfeldes ausdehnt, sehen Sie ganz klar, was ich meine. Ein Raum in dem viele verschiedene Erscheinungen die eine Ganzheit bilden. So wie die Komponenten eines Bildes dieses erst zu einem vollständigen Bild machen. Die Wahrnehmung verliert ihr Zentrum dort, wo vorher Ihr Körper war und ist in dem Einen nicht mehr lokalisierbar.

Nun nehmen Sie bitte vom Standpunkt des Klaren Sehens aus Ihre Gefühle, Gedanken und Empfindungen wahr. Tun Sie dies eine Weile lang. Sind diese Gefühle, Gedanken und Empfindungen nicht auch einfach nur Erscheinungen im leeren Raum, so wie alle andern auch? Der Stuhl der Tisch, die Blume, der Baum, die Katze, das Sofa, der andere Mensch, die Geräusche und die Äußerungen des anderen Menschen?

Das Klare Sehen macht ganz deutlich, dass es kein Subjekt, keine Person gibt. Es gibt nur diesen einen leeren, gewahren Raum und die Erscheinungen in ihm. Punkt. Gewahrsein und den Inhalt des Gewahrseins. Dies zusammen ist Bewusstsein. Bewusstsein ist die Gleichzeitigkeit von Gewahrsein und Inhalt des Gewahrseins. Das ist nicht dual. Beides ist eins. Gewahrsein und Inhalt des Gewahrseins sind die Ganzheit. Keine Trennung, keine Einzelereignisse. Das ist Gott und die Schöpfung, um eine anachronistische Terminologie zu bemühen.

Haut Sie das um? Mich ja. Mehr gibt es nicht zu wissen. Alles andere sind beliebige Erscheinungen im Raum. Gedanken, Analysen, Modelle, Konzepte, das sind Inhalte. Und eben ein Gewahrsein all dessen.

Beliebig? Ja, beliebig. Es gibt keinen freien Willen. Das leuchtet nun ein, denn wer, wenn es nur eine Ganzheit gibt, könnte etwas entscheiden? Fragen Sie sich einmal: Hatten Sie einen Einfluss darauf, dass Sie als Mensch erschienen? Auf den Zeitpunkt Ihres Erscheinens? Auf die Umgebung in der sie erschienen sind? Konnten Sie die Menschen Ihrer Familie auswählen? Ihre Kultur? Kontrollieren Sie Ihren Herzschlag, Ihre Verdauung, ihren Stoffwechsel, ihre Atmung, oder funktioniert das nicht auch ohne Ihr Zutun?

Die elementare Frage ist: Wer entscheidet Ihre scheinbaren Entscheidungen? Wer, was sie fühlen? Wer entscheidet, was Sie denken? Wer entscheidet, was Sie als nächstes tun? Sie nicht. Gedanken erscheinen spontan. Erst nachdem sie ins Bewusstsein getreten sind nehmen wir sie in Besitz und sagen: “Das sind meine Gedanken. Ich habe mich entschieden. Das habe ich getan.” Irrtum.

Vom Standpunkt des Klaren Sehens, des Gewahrseins, aus ist es ganz klar: Gedanken, Gefühle, Empfindungen, Menschen, Tiere, Pflanzen und Dinge sind Objekte unterschiedlicher Art, die schlicht und einfach im Raum erscheinen. Gesteuert von Niemandem. Haben Sie daran Zweifel? Nun, die Person kann nicht anders, als Widerstand dagegen haben, denn Sie ist es, die die Trennung in die Ganzheit bringt. Sie will keine Ganzheit und hat Angst davor, denn sie ist Trennung.

Dies ist die bittere Medizin, die alles heilt. Heil zu sein bedeutet ganz zu sein, bedeutet Ganzheit. Wo in der Ganzheit ist derjenige, der entscheidet? Es gibt ihn nicht.

Was ist die Folge davon, dass niemand entscheidet? Niemand ist verantwortlich, für das, was er tut. Es ist tatsächlich so. Oha, ich höre den Aufschrei der Moralisten! Noch einmal: Es gibt in Wahrheit keine getrennte Person. Nur die Vorstellung einer Person. Es gibt nur ein Gesamtereignis in dem scheinbar verschiedene Personen erscheinen und jede erfüllt ihre Rolle. Auch Sie. Scheinbar. Es ist, wie bei einem Bühnenstück. Dieses kann nur eine Faszination auf Sie ausüben, wenn Sie glauben, dass dort verschiedene Charaktere interagieren. Sie glauben dem Spiel. So ist es im richtigen Leben auch.

Das Leben verliert seine Dramatik, wenn Sie aufhören zu glauben, dass es Personen gibt. Da gibt es nur ein Stück mit dem Titel: „Mein Leben.“ Es ist eine willkürliche Inszenierung. Es gibt hier keinen Verantwortlichen, keinen Täter, kein Opfer, keinen Retter, keinen Schuldigen, keinen Richter, keinen Heiler, niemanden der geheilt werden muss, keinen Lehrer, keinen Schüler. Nur das was ist. Und da ist niemand. Nur leerer, gewahrer Raum und der Inhalt des leeren Raumes, das scheinbare Drama.

Das hat natürlich auch zur Folge, dass da niemand jemals etwas geleistet hat. Niemand, der sagen kann, dies ist meine Leistung, das habe ich geschafft. Niemand hat je versagt. Stolz wird zu einer leere Geste und Fehlschläge bekommen Unterhaltungswert. Nehmen Sie Ihr Leben nicht mehr persönlich. Alles was Sie tun und jede Identifikation ist unpersönlich. Lehnen Sie sich zurück und genießen Sie die Show! Einschließlich Ihrer eigenen.

Ich weiß, dass ich Sie und Ihr Weltbild sehr strapaziere. Ein kluger Mensch hat einmal gesagt, dass es nichts Gefährlicheres gibt, als eine Person oder gar die Existenz einer Person, und damit ihren Wert, in Zweifel zu ziehen. Ich tue dies gerade. Ich hatte Sie gewarnt. Sie haben weitergelesen. Sie können sich, mit ein wenig Offenheit, durch eigene, unmittelbare Erfahrung selber davon überzeugen, dass meine Beschreibungen der Realität entsprechen. Ich will Sie von nichts überzeugen. Wozu auch? Es ist offensichtlich. Überprüfen Sie es selber und finden Sie heraus was wahr ist. Praktizieren Sie das Klare Sehen.

Wenn es keinen Täter und keinen Verantwortlichen gibt, wird dann nicht jeder tun, was er will? Werden Übergriffe, Betrügereien und Kriminalität nicht enorm zunehmen? Nein, denn die Rolle der scheinbaren Personen ändert sich nicht. Gleichgültig, ob sich jemand mit ihr identifiziert oder nicht. Haben Sie die Erkenntnisse, die Sie durch das Klare Sehen gewonnen haben, aggressiver gemacht? Planen Sie nun einen Banküberfall? Wohl eher nicht. Es wird beobachtet, dass das Klare Sehen neurotische Neigungen eher aushebelt. Neurotische und psychotische Eigenschaften setzten Trennung voraus. Klares Sehen hebt die Trennung auf.

Des Weiteren ermächtigt das Klare Sehen Menschen und steigert ihre kreative Kraft. Autoritäten werden nicht mehr als solche angesehen und die Menschen werden sich ihrer Gleichheit bewusst. Hierarchien habe nur noch Wert, wenn sie als Ordnungsstruktur dienen und alle Beteiligten einen Nutzen von Ihnen haben. Ideologien werden ausgehöhlt und Religionen werden auf ihre wahren Wurzeln zurückgeführt, womit ihr komplizierter, künstlicher, klerikaler Überbau von Schuld, Vergebung und Streben, ein idealer Mensch zu sein, zusammenbricht. Wir sind vollkommen, nicht als Person, sondern als Emanation, eingebettet in die Ganzheit, die wir nie verlassen haben und nie verlassen konnten.

Das Klare Sehen öffnet einen Raum, der akzeptiert und integriert. Es darf so sein, wie es ist. Es muss nicht verändert werden. Wir kommen nach Hause. Das Suchen hat ein Ende. Erfüllung und Friede stellt sich ein. Aber nicht im Sinne von „Friede, Freude, Eierkuchen“. Es geschehen natürlich immer noch Konflikte und Auseinandersetzungen, doch diese werden einfach gesehen, als das, was sie sind. Sie sind in der Regel schnell vorbei, denn die Anhaftung des Egos an ihnen ist verschwunden.

Ulrich Heister
1 Kommentar
  1. maria sagte:

    wunderbar hier zu lesen:) immer kommt erleichterung :) wollte nur mal danke sagen lieben gruss maria

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