Lebendigkeit

Eine Freundin erzählte, dass sie ohne eigenes Zutun in einen privaten Rechtsstreit geraten sei und wie sehr die Situation sie belaste. Sie habe nach jedem Brief vom gegnerischen Familienanwalt tagelang einen Kloß im Magen, und jede neue Eskalatiosstufe raube ihr etwas mehr Lebensenergie.

Ich fragte sie, ob es ihr in einer solchen akuten Situation wenigstens kurz gelingen könnte, einen Standpunkt einzunehmen, in dem sie die Angriffe und Vorwürfe einfach als Ausdruck von Lebendigkeit betrachtet: so etwas wie ein Schauspiel, das sich in allen seinen Facetten entfaltet. Für kurze Zeit fühlte sie wirkliche Erleichterung. Nach ein paar Wochen berichtete sie, dass ihr diese kurzen Momente immer besser gelängen, und dass sie diese Haltung mittlerweile auf viele andere belastende Lebenssituationen ausdehne. Der Familienstreit sei nun weniger belastend, und allein durch diese Übung habe sich ihre Lebensqualität wieder deutlich verbessert ­ obgleich die Sache selbst noch lange nicht ausgestanden sei.

Es geht nicht darum, Konflikten auszuweichen. Sie können weiter alles tun, was nötig ist. Es geht auch nicht darum, Schwieriges zu verharmlosen. Manche Dinge sind belastend und müssen bearbeitet und gelöst werden, manchmal mit juristischen Mitteln. Manchmal in einer tiefergehenden Therapie. Aber wenn es zwischenzeitlich gelingt, immer einmal herauszutreten aus den Dramen, dann kann das Leben insgesamt immer leichter werden. Vielleicht zeigt sich sogar, dass sich mit weniger innerer Spannung unerwartete Lösungswege aufzeigen.

Übrigens geht es auch nicht darum, sich nicht zu ärgern. Ärgern Sie sich kräftig und intensiv, und nehmen Sie dann sekundenweise den Standpunkt ein, dass dieser eigene Ärger einfach ein Ausdruck von Lebendigkeit ist. Beginnen Sie mit kleinen Ärgernissen und gestatten Sie sich, dass es nicht immer klappt, diese Haltung einzunehmen. Freuen Sie sich, wenn es für Sekundenbruchteile klappt.

Ulrich Heister